Gert Loschütz liest aus „Besichtigung eines Unglücks“
Im Winter 1939 kommt es zum größten Zugunglück der deutschen Geschichte. Am Potsdamer Bahnhof von Berlin fahren am späten Abend des 21. Dezember 1939 kurz nacheinander zwei D-Züge in Richtung Westen ab, der D-10 nimmt Fahrt auf Köln, der D-180 mit Ziel im Saarland. Wegen der nahen Feiertage ist der erste Zug überfüllt, das Ein- und Aussteigen benötig mehr Zeit als üblich, da auf den Bahnhöfen seit Kriegsbeginn Verdunklung angeordnet ist und ein Militärzug erhält auf der Strecke Vorrang. So kommt es, dass der D-10 kurz vor dem Bahnhof Genthin bereits 27 Minuten Verspätung hat. Der D-180 kommt dagegen schnell durch. Als sich die Katastrophe bereits abzeichnet, versuchen Bahnbeamte an der Strecke den Lokführer auf die drohende Gefahr hinzuweisen, doch ihre Bemühungen sind vergeblich. Die letzte Hoffnung ist ein Beamter im Stellwerk in Genthin. Doch dieser gibt fälschlicherweise sein Nothaltesignal zu früh und stoppt den ersten Zug. Hätte er sein Signal vier Sekunden später gegeben, wäre der Unfall wohl nicht geschehen.
Trotz der zweihundert Opfer ist diese Katastrophe im kollektiven Gedächtnis so gut wie vergessen. In einer akribischen Recherche rekonstruiert der Ich-Erzähler in Gert Loschütz‘ neuem Roman die Umstände des Unglücks. Und er stößt in seiner Recherche auf zwei Fahrgäste, deren Schicksal er nachgeht. Dabei entdeckt er eine Geschichte, die mit dem Leben seiner Mutter für einen kurzen Moment verwoben sein könnte. Nur einer der vielen scheinbaren Zufälle, die diesen Roman vorantreiben. „Besichtigung eines Unglücks“ zeugt von Gert Loschütz‘ großer Meisterschaft, in suchenden Bewegungen von Menschen zu erzählen, in deren Leben sich die Abgründe dieses 20. Jahrhunderts spiegeln. Wie kaum ein anderer Schriftsteller seiner Generation wahrt er dabei Distanz zu seinen Figuren und lässt ihnen die Würde eines Innen, das ihnen zu eigen bleibt. Ein eindrucksvoller Roman, der die literarische Selbstbefragung über Kontingenz und Schicksal zu einem neuen Höhepunkt führt.
Gert Loschütz, Jahrgang 1946, hat Erzählungen, Romane, Gedichte, Hörspiele, Theaterstücke und Filmdrehbücher geschrieben. „Besichtigung eines Unglücks“ stand auf der Longlist zum Deutschen Buchpreis und wurde 2021 mit dem Wilhelm-Raabe-Literaturpreis ausgezeichnet.
Florian Kind ist Veranstaltungsleiter im Kulturbüro Friedrichshafen.
Lesung: Gert Loschütz „Besichtigung eines Unglücks“
Mo 25. April, Kiesel im k42, 19.30 Uhr
Kartenvorverkauf hier
Foto: © Bogenberger