Die dörfliche Landschaft als unmittelbarer Lebensraum steht im Zentrum der im Sammlungsraum präsentierten expressionistischen Werke aus der Sammlung Selinka. Die Malereien und Druckgrafiken von Gabriele Münter, Karl Schmidt-Rottluff, Max Pechstein, Ernst Ludwig Kirchner, Erich Heckel und Lyonel Feininger zeugen von der Bedeutung der Landschaft und der abgeschiedenen Dörfer als Inspirationsquelle für die Künstler. Fernab von Dresden, Berlin oder München bildeten die Landaufenthalte den ersehnten Ausgleich zur städtischen Umgebung und wurden zum produktiven Rückzugsort.
Gabriele Münter (1877–1962) gehörte mit Wassily Kandinsky, ihrem Lehrer und späteren Lebensgefährten, zu den Gründungsmitgliedern der Künstlergruppe »Der Blauer Reiter«. 1909 erwarb Münter in Murnau am Staffelsee ein Haus, um auch außerhalb Münchens im bayrischen Voralpenland arbeiten zu können. Vier Gemälde lassen ihre Entwicklung zu einer Malweise nachvollziehen, die nicht mehr dem Vorbild der Natur, sondern dem subjektiven Eindruck folgte. 1911 schrieb Münter in ihr Tagebuch: »Ich habe dort nach einer kurzen Zeit der Qual einen großen Sprung gemacht – vom Naturabmalen (…) – zum Fühlen eines Inhalts, zum Abstrahieren – zum Geben eines Extrakts.«
Auch die Mitglieder der Künstlergruppe »Brücke« (1905–1913) fanden auf dem Land künstlerische Anregung und neue Motive. 1909 erkannte Max Pechstein in dem Fischerort Nidden auf der Kurischen Nehrung sein ersehntes Malerparadies. Sein Gemälde »Fischerhäuser in Nidden« (1919) lenkt den Blick auf das Dorf bei abendlicher Stimmung und aufkommendem Gewitter, während Karl Schmidt-Rottluff (1884–1976) in dem atmosphärischen Aquarell »Bei Nidden« (1913) die im Licht der Abendsonne erstrahlende Landschaft zeigt. Auch Erich Heckel (1883–1979) setzt die Naturgewalt des Sturms während eines Aufenthalts in Hiddensee in seinem Farbholzschnitt »Weiße Pferde« (1912) mit kompositorischen Mitteln und abstrahierter Formensprache eindrucksvoll ins Bild. Von Heckel und Schmidt-Rottluff, die den Holzschnitt als zeitgemäße Ausdrucksform wiederbelebt hatten, erhielt Lyonel Feininger wichtige Impulse. Holzschnitte wie »Daasdorf« (1918), in dem der gesamte Bildraum prismatisch zerlegt ist, zeugen von den thüringischen Dörfern als Inspirationsquelle und der Fähigkeit, die dörfliche Landschaft in ein expressives Stimmungsbild zu überführen.
Die Ausstellung im Kumstmuseum Ravensburg ist bis 27. September 2020 zu sehen.

Ute Stuffer
Direktorin im Kunstmuseum Ravensburg