Mit der Einzelausstellung »WAS BLEIBT« zeigt das Kunstmuseum Ravensburg nach 15 Jahren eine der umfangreichsten Werkschauen der renommierten französischen Konzeptkünstlerin Sophie Calle (*1953) in Deutschland. Anhand von sechs Werkserien mit Arbeiten von 1986 bis 2019 rückt die Ausstellung das Abwesende und dessen Weiterleben in der Erinnerung in den Mittelpunkt. Sophie Calle ist an erster Stelle eine virtuose Erzählerin, die ihre Geschichten im Zusammenspiel von fotografischem Bild und Text ausbreitet und es versteht die Imaginationskraft des Betrachters einzubinden. Ihre Werke sind Dokument und Fiktion zugleich. Sie laden ein zu Neugier, Empathie und Selbstbefragung.
Zentrale Themen der drei Werkserien »Les Tombes« (Die Gräber) (1990), »Série Noire« (2018) und »Ma mère, mon chat, mon père et moi, dans cet ordre« (Meine Mutter, meine Katze, mein Vater und ich, in dieser Reihenfolge) (2012–2019) sind Reflexionen über die eigenen familiären Beziehungen, über Tod und Trauer sowie die Frage, wie wir mit diesen Emotionen im Privaten und in der Öffentlichkeit umgehen. Die letztgenannte Werkgruppe stammt aus der seit 1988 entwickelten Serie »Autobiographies« (Autobiografische Geschichten), in der Sophie Calle den Blick auf ihr eigenes Leben richtet. Im Zentrum der Arbeiten steht der Verlust ihrer Mutter, ihrer Katze und ihres Vaters, die in dieser Reihenfolge verstorben sind, sowie die Auseinandersetzung mit dem eigenen Tod. Sophie Calle berichtet aus sehr persönlicher und auch humorvoller Sicht vom Umgang mit dem Tod, vom Abschiednehmen und vom Gedenken.
Wie wir mit dem Verlust eines geliebten Menschen oder Bekannten umgehen, ist auch Thema der »Série Noire«. Das Erscheinungsbild der gerahmten Bücher ist der gleichnamigen Reihe düsterer amerikanischer und französischer Kriminalromane nachempfunden, die ab 1945 vom Verlagshaus Gallimard publiziert wurde. Sophie Calle verknüpft einzelne Titel dieser literarischen Gattung wie bspw. ›Sans espoir de retour‹ (Keine Hoffnung auf Rückkehr) mit pragmatischen Fragen rund um unseren Umgang mit analogen und digitalen Kontaktdaten von Verstorbenen – Fragen, denen wir uns stellen müssen, aber die wir in der Regel nicht auszusprechen wagen.
Auf dem Boden des Ausstellungsraums hat Sophie Calle die vielteilige Arbeit »Les Tombes« platziert, mit Aufnahmen von Grabstätten, die auf einem Friedhof in der Nähe von San Francisco entstanden. Durch die Aufnahmeperspektive rückt sie Verwandtschaftsbezeichnungen wie ›Vater‹, ›Mutter‹, ›Sohn‹, ›Schwester‹ in den Fokus. »Les Tombes« lässt uns unwillkürlich über die Rolle nachdenken, die die Toten im Leben anderer Menschen einmal gespielt haben könnten, aber auch über familiäre Beziehungen im Allgemeinen und deren Verlust.
An was erinnern wir uns? Wie zuverlässig sind Erinnerungen, und welche Formen nehmen sie an? Diese Fragen spielen auch in weiteren Werkserien eine zentrale Rolle. In Berlin machte sich Sophie Calle auf die Suche nach den Spuren, die die politischen Umwälzungen nach der Wiedervereinigung hinterlassen haben. Ihr besonderes Interesse galt den politischen Denkmälern des kommunistischen Herrschaftssystems, die sukzessive aus der Öffentlichkeit entfernt wurden. Calle kombiniert in »Detachment« (Die Entfernung), (1996) Fotografien von den Leerstellen im öffentlichen Raum mit den Aussagen interviewter Passanten. Die Texte verdeutlichen, wie gegenwärtig das Verschwundene noch im Bewusstsein der Menschen ist, und offenbaren zugleich, wie sehr sich die Erinnerung ›entfernt‹.
In »La Dernière Image« (Das letzte Bild), 2010 befragt Calle Menschen, die durch eine Augenkrankheit blind geworden sind, nach ihrer Erinnerung an das letzte Bild, das sie sahen. Calle versucht festzuhalten, was zu verschwinden droht, indem sie die Aussagen der Blinden durch von ihr nachempfundene Fotografien ergänzt. Bereits in den 1980er-Jahren setzte sich Sophie Calle mit Blindheit auseinander und befragt in »Les Aveugles« (Die Blinden), (1986) Blindgeborene nach ihrer Vorstellung von Schönheit. Eine Frage, die zunächst grenzüberschreitend erscheinen mag, jedoch neue aufschlussreiche Perspektiven auf ein Leben ohne Augenlicht eröffnet. In all diesen Werken Sophie Calles spielen das Abwesende, die Fragilität der Erinnerung und die Kraft der Imagination eine zentrale Rolle.
Die Arbeiten von Sophie Calle wurden weltweit in renommierten Museen ausgestellt, u. a. in Einzelausstellungen im Nagasaki Prefectural Art Museum, Nagasaki, Japan (2016), Castello di Rivoli, Turin, Italien (2014), Isabella Stewart Gardner Museum, Boston, USA (2013), Louisiana Museum of Modern Art, Humlebæk, Dänemark (2010), Ludwig Forum für Internationale Kunst, Aachen, Martin-Gropius-Bau, Berlin, Deutschland (2004). 2007 vertrat Sophie Calle Frankreich auf der Biennale in Venedig, 2010 erhielt sie den Hasselblad Award und 2002 Spectrum – Internationaler Preis für Fotografie.
Die Ausstellung im Kunstmuseum Ravensburg ist bis 27. September 2020 zu sehen.
Ute Stuffer